Feierabend. Jetzt noch schnell etwas einkaufen. Als ich den Supermarkt betrete, schallt mir schon von weitem die unangenehm schrille Stimme eines dicken kleinen Jungen entgegen. „Mama … krieg ich ein Eis? … Mama!“

 

 

Mama ist offensichtlich gerade in ein Gespräch mit einer Freundin vertieft und ignoriert ihren Filius. Bewundernswert. Ich könnte das nicht.

 

Mama … ich … will … ein … Eis!“

 

Die Lautstärke steigert sich, während ich mich auf die Such nach einem Einkaufswagen mache. Natürlich ist keiner da. Ich könnte warten, bis einer frei wird, aber ich brauche nur ein paar Teile und beschließe, ohne auszukommen.

 

 

Mama! Eis!“

 

Der kleine dicke Junge ist inzwischen vom Schreien rot angelaufen. Lieber Gott, sollte ich jemals Kinder bekommen, dann bitte nicht so eins! Ich schwöre, ich könnte es nicht lieb haben.

 

 

Zu Feierabend bin ich immer hungrig, und wenn man hungrig einkaufen geht, kommt man in Versuchung, mehr zu kaufen als geplant. Obwohl ich ja nur ein paar Kleinigkeiten besorgen wollte, komme ich mit vollen Armen an den Kassen an. Ich such mir die kürzeste Schlange aus und reihe mich ein. Das Kassenband ist noch in unerreichbarer Ferne und der Stapel aus Tiefkühlpizzen, Dosensuppen, Joghurtbechern und Chipstüten in meinen Armen droht ins Rutschen zu geraten. Ich lehne mich leicht nach hinten, um die Lebensmittel besser gegen meine Brust abstützen zu können und sehe wahrscheinlich unglaublich blöd dabei aus.

 

 

Es geht nicht recht vorwärts. Ich schiele an der Schlange vorbei, um zu sehen, woran es liegt. An der Kasse sitzt ein sehr junges Mädchen. Entsetzt fällt mir ein, dass das Ausbildungsjahr gerade begonnen hat und in den Abendstunden die neuen Lehrmädchen immer ihre ersten Kassenerfahrungen sammeln dürfen. Ich weiß ja, dass sie es irgendwann lernen müssen. Aber muss es gerade in meiner Kassenschlange sein?

 

Letzte Woche hatten wir so eine Stressberaterin in der Firma. Die kommt jetzt regelmäßig. Und die hat uns gesagt, immer wenn wir merken, dass wir dabei sind, uns aufzuregen, sollen wir uns vorstellen, wir würden Seifenblasen pusten. Große, schillernde, bunte, ruhige, schwebende Seifenblasen. Als von vorne der Ruf erschallt: „Frau Müller! Die Stornokarte!“, probiere ich das doch gleich mal aus. Vor meinem geistigen Auge entsteht eine wunderschöne große Seifenblase und schwebt durch den Kassenraum davon.

 

 

Trotzdem beschließe ich, die Schlange unauffällig zu wechseln. Dabei gerät der Lebensmittelberg in meinen Armen endgültig ins Rutschen und drei Dosensuppendosen poltern zu Boden. Ein junger Mann kommt herbeigeeilt, und ich will mich schon für seine Aufmerksamkeit bedanken, als mir klar wird, dass der keinesfalls angestürmt kommt, um meine Suppendosen aufzusammeln, sondern sich dreist vor mir in der Schlange einreiht. So ein Ar … ich atme tief ein und puste ein paar weitere Seifenblasen, während ich zwei der heruntergefallenen Dosen wieder aufsammele. Die Pfifferlingrahmsuppe ist in unerreichbare Ferne unter ein Regal gekullert und wird dort wohl ewig liegen bleiben. Ich spendiere ihr eine Seifenblase und verzichte auf Ersatz.

 

 

Beinahe geraten meine Einkäufe wieder ins Rutschen, als mich ein Einkaufswagen von hinten in die Waden trifft. Ich fahre herum und sehe den kleinen dicken Jungen von eben, dahinter die Mutter, die, immer noch im Gespräch mit ihrer Freundin, von den miserablen Fahrkünsten ihres Sohnes nichts bemerkt. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen und puste stattdessen lieber schnell noch eine Seifenblase. Gerade, als ich mich wieder nach vorne gedreht habe, ertönt von hinten wieder: „Mama, krieg ich jetzt ein Eis oder nicht?“ Kurz bin ich versucht, in die Tiefkühltruhe zu greifen und dem Kleinen höchstpersönlich ein Cornetto-Hörnchen in die Haare zu schmieren, doch dann ersticke ich auch diesen Impuls in einem Strom von kleinen, neuen Seifenblasen.

 

 

Dem jungen Mann vor mir fällt plötzlich ein, dass er noch etwas vergessen hat und er drängelt sich unsanft an mir vorbei. Ich schicke ihm ein paar Seifenblasen hinterher. Wenigstens bin ich jetzt am Kassenband angelangt und kann meine strapazierten Arme entlasten. Erleichtert lasse ich die Waren auf das Band purzeln. Dabei gerät eine meiner Chipstüten zwischen die Einkäufe der älteren Dame vor mir. Mit bösem Blick sieht sie mich an, zupft die Tüte mit spitzen Fingern zwischen ihren Möhren und ihrem Wirsingkohl hervor und drückt sie mir in die Hand. Dann greift sie zu einem dieser Abtrennhölzer und fuchtelt mir damit vor der Nase herum. „Das müssen Sie dazwischen legen!“ keift sie mich an. Atmen, Seifenblase, atmen, Seifenblase. Ich erzwinge ein Lächeln und klemme das Abtrennholz zwischen unsere Einkäufe.

 

 

Endlich bin ich selbst an der Reihe. Die Kassiererin ist unglaublich gewissenhaft. Jeden Gegenstand nimmt sie hoch und dreht ihn um alle drei Raumachsen, um herauszufinden, wo der Streifencode ist und zieht diesen dann mit hochkonzentriertem Gesicht über den Scanner. Meistens sogar mit Erfolg. Begeistert puste ich für jeden gebonten Artikel eine Seifenblase und für jeden Fehlversuch zwei. Gut, es gibt Leute, die hätten aus der Tatsache, dass der Scanneraufdruck bei den ersten beiden Joghurtbechern auf dem Deckel war, geschlossen, dass das bei dem dritten auch so ist. Die Kassiererin gehört nicht zu diesen Leuten. Aber mit Sorgfalt kommt man auch zum Ziel. Ich spendiere noch ein paar extra Seifenblasen. Dann darf ich endlich zahlen. Während ich meine Lebensmittel im Einkaufsnetz verstaue, stelle ich mir vor, wie alle meine Seifenblasen so durch den Supermarkt schweben, als mich der Einkaufswagen von hinten wieder in die Hacken trifft. Diesmal schiebt Mama selbst und hat auch noch die Dreistigkeit, mich anzuschnauzen: „Jetzt trödeln Sie doch hier nicht so rum, andere Leute wollen auch nach Hause.“ Im Hintergrund schreit Sohnemann immer noch nach Eis.

 

 

Meine Seifenblasen platzen. Alle auf einmal. Ich platze auch.

 

Jetzt halt bloß die Schnauze, du dumme Kuh! Kauf deinem widerlichen Sohn lieber ein Eis oder knall ihm eine. Das Geschrei ist ja nicht auszuhalten. Und diese unfähige Schnepfe von Kassiererin braucht eh noch mindestens zehn Minuten für dein Zeug.“

 

 

Ich greife mein Einkaufsnetz und stürme hocherhobenen Hauptes aus dem Laden. Das hat jetzt gut getan. Es ist mir egal, dass ich gerade einer gestressten Mutter den Tag verdorben und das Selbstwertgefühl einer Kassiererin geknickt habe. Ich fühle mich befreit. Und morgen erzähle ich dieser Stressberatungstante, was ich von ihren Seifenblasen halte.