Alle im Haus wussten, dass Herr Fridolin ein sehr sanfter und freundlicher Mann war. Er war auch ausgesprochen hilfsbereit. Das wusste Frau Kruse aus dem Erdgeschoss, die sich von ihm die nasse Wäsche auf den Dachboden tragen ließ, und Frau Rielke aus dem fünften Stock, für die er den Müll herunter trug. Und Herr Meyer, der sich regelmäßig sein Auto auslieh, wusste das auch. Er hatte schon zweimal eine Beule hinein gefahren und Herr Fridolin hatte nie auch nur ein böses Wort gesagt, nur freundlich genickt und „Kann ja mal passieren“ gemurmelt.
Alle im Haus kannten also Herrn Fridolin und seine sanftmütige Art. Darum waren sie auch so erstaunt über das laute wütende Geschrei, das eines Tages aus seiner Wohnung drang.
Als Herr Fridolin an diesem Tage von der Arbeit kam, saß in seinem Wohnzimmer ein Wicht und blickte ihm entgegen. Herr Fridolin erschrak nicht wenig, als er die zottelige kleine Gestalt in seinem Lieblingssessel sitzen sah. Er brauchte einen Moment, bis er seine Höflichkeit wieder fand.
„Guten Tag!“, sagte er dann. „Kann ich Ihnen helfen?“
„DAS IST JA WOHL DAS ALLERLETZTE!“, brüllte der kleine Wicht. Herr Fridolin wich etwas zurück.
„Entschuldigung. Hab ich etwas falsch gemacht?“, fragte er vorsichtig.
„MICH HIER STUNDENLANG WARTEN ZU LASSEN! UND ÜBERHAUPT HAB ICH HUNGER!“
Der Wicht war vom Schreien ganz rot angelaufen und trat mit seinen Fersen gegen den Sessel. Herr Fridolin versuchte, ihn zu beschwichtigen.
„Das tut mir leid. Ich wusste nicht, dass wir verabredet waren. Ich mache Ihnen natürlich sofort etwas zu essen.“
Er stürzte in die Küche und durchwühlte die Schränke. Auf Besuch war er nicht recht vorbereitet. Der wütende Wicht war hinter ihm her gekommen und sah ihm zu.
„Ich hab nicht viel, was ich Ihnen anbieten kann. Ein Butterbrot vielleicht? Oder eine Tütensuppe?“, schlug Herr Fridolin vor.
„TÜTENSUPPE? TÜTENSUPPE? ICH SITZE HIER STUNDENLANG RUM UND DU WILLST MICH MIT EINER TÜTENSUPPE ABSPEISEN?“
Der Wicht hüpfte vor Wut auf und ab und schnaufte..
„Es tut mir leid“, beteuerte Herr Fridolin. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich eingekauft.“
„HÄTTE, WÜRDE, KÖNNTE, IST DOCH IMMER DAS GLEICHE!“
„Wissen Sie was? Setzen Sie sich doch noch einen Moment ins Wohnzimmer, dann gehe ich schnell noch einmal los und besorge uns etwas. Was möchten Sie denn haben?“
„WIEDER WARTEN? FÜR WEN HALTEN SIE MICH EIGENTLICH?“, brüllte der wütende Wicht, doch er dreht sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Herr Fridolin deutete das als ein Zeichen der Zustimmung. Er griff nach seiner Jacke und seiner Brieftasche und floh aus der Wohnung.
„CURRYWURST POMMES MAYO!“, schrie der Wicht ihm nach und das klang für seine Verhältnisse schon fast freundlich.
So schnell er konnte rannte Herr Fridolin zur nächsten Imbissbude und kaufte das gewünschte Abendessen. Dann hetzte er wieder zurück. Als er im Hausflur ankam, streckte Frau Kruse ihren Kopf aus der Wohnung und hielt ihm ihren Wäschekorb unter die Nase.
„Herr Fridolin? Könnten Sie kurz?“
Beinahe hätte er gesagt: „Nein, tut mir leid, keine Zeit“, doch dann gewannen seine guten Manieren die Oberhand.
„Ja sicher, selbstverständlich.“
Er nahm Frau Kruse den Korb ab und schleppte ihn auf den Dachboden. Als sie an seiner Wohnungstür vorbeikamen, konnte er dahinter gedämpft das Gebrüll des Wichts hören.
„immer noch nicht zurück! unglaublich! was denkt der sich!“
Frau Kruse sah Herrn Fridolin fragend an.
„Sie haben Besuch?“
Er lächelte verlegen.
„Ja, ganz überraschend.“
Rennend trug er den Korb die letzen Stufen hinauf, ließ Frau Kruse auf dem Dachboden stehen ohne sich zu verabschieden und hetzte in seine Wohnung.
„MANN! HAT DAS GEDAUERT! MUSSTEST DU DIE KARTOFFELN ERST ANBAUEN ODER WAS?“, rumorte der Wicht, während Herr Fridolin eilig das Essen auspackte und den Tisch deckte.
Wenn Herr Fridolin gehofft hatte, das Essen würde den Wicht besänftigen, hatte er sich getäuscht. Die Pommes waren ihm zu matschig, die Currywurst zu kalt und die Mayonnaise zu warm, was er alles lautstark verkündete. Das Schreien hielt ihn jedoch nicht davon ab, seine Portion in Sekundenschnelle zu verdrücken. Herr Fridolin aß schweigend. Danach räumte er den Tisch ab, begleitet von einer Schimpftirade des Wichtes darüber, wie unhöflich es war, ihn einfach so am Tisch sitzen zu lassen.
Als der Wicht in seinem Gebrüll eine kleine Pause machte, um Atem zu holen, nutzte Herr Fridolin die Gelegenheit.
„Was kann ich denn jetzt eigentlich für Sie tun?“, fragte er vorsichtig.
Vielleicht war das ein Fehler. Der Wicht blies sich auf, bis Herr Fridolin befürchtete, dass er gleich platzen würde und brüllte dann noch lauter als jemals zuvor:
„HAST DU ES IMMER NOCH NICHT KAPIERT? DU BIST ECHT ZU BLÖD, ODER? ICH BIN HIER UM WAS FÜR DICH ZU TUN. ABER DAS SCHNALLST DU NICHT. SCHON KLAR.“
„Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.“
Herr Fridolins Stimme klang ganz verzweifelt. Er war müde nach seinem langen Arbeitstag und sein unerwarteter Besucher stellte ihn auf eine harte Probe.
„Hören Sie. Ich würde jetzt wirklich gerne ins Bett gehen. Vielleicht könnten Sie ja morgen wiederkommen?“
Der Wicht legte den Kopf schief und sah ihn fragend an.
„Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, setzte Herr Fridolin hinzu.
Der Wicht schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Dann fing er wieder an zu schreien.
„NEIN! NEINEINEINEIN!“, tobte er. „SO LASSE ICH MICH NICHT WEGSCHICKEN. SO NICHT! ICH BLEIBE!“
Herr Fridolin seufzte.
„Ja, wenn Sie möchten, können Sie gerne über Nacht bleiben. Möchten Sie auf der Couch schlafen?“, bot er an.
„AUF DER COUCH?“, brüllte der Wicht.
„Na gut! Na gut! Sie können auch mein Bett haben. Dann schlafe ich auf der Couch. Schließlich sind Sie mein Gast.“
Es wurden anstrengende Tage für Herrn Fridolin. Der Wicht weigerte sich, wieder zu gehen. In den Nächten schlief Herr Fridolin schlecht, denn die Couch war unbequem und aus seinem Schlafzimmer drang das laute Schnarchen des Wichts. Selbst im Schlaf klang er wütend. Tagsüber folgte er Herrn Fridolin überall hin und hatte an allem etwas auszusetzen. Je mehr Mühe Herr Fridolin sich gab, es dem Wicht recht zu machen, desto wütender schien er zu werden. Er wusste sich keinen Rat mehr. Immer häufiger war er kurz davor die Nerven zu verlieren.
Am Mittwoch Abend war er völlig erschöpft. Er war gerade den langen Weg von der Arbeit zu Fuß nach Hause gelaufen, weil Herr Meyer sich sein Auto geliehen hatte. Der Wicht hatte sich die ganze Zeit an sein Bein geklammert und mitziehen lassen und dabei ununterbrochen auf ihn eingebrüllt.
„DU BIST JA AUCH SO BLÖD. WAS VERLEIHST DU AUCH DEINE KARRE. WENN DU NICHT IMMER SO SCHEISSNETT WÄRST, DANN BRÄUCHTEN WIR JETZT NICHT ZU FUSS ZU LAUFEN“ und so weiter.
Sobald er den Hausflur betrat, schob Frau Kruse kommentarlos ihren Wäschekorb aus der Tür. Seit der Wicht da war, redete sie nicht mehr viel mit Herrn Fridolin. Seufzend nahm er den Korb und schleppte ihn die Treppen hinauf. Das war sehr anstrengend, denn der Wicht hing immer noch an seinem Bein.
„JA KLAR! WEGEN DEINER HILFBEREITSCHAFT MÜSSEN WIR DIE EXTRATREPPEN JETZT AUCH NOCH STEIGEN.“
Herr Fridolin versuchte, das Geschrei zu ignorieren. Er stellte den Wäschekorb auf dem Dachboden ab und machte sich an den Abstieg. Als er an der Tür von Frau Rielke vorbeikam, öffnete sich diese.
„Guten Tag Herr Fridolin! Wo Sie doch gerade auf dem Weg sind, könnten Sie meinen Müll mit herunternehmen?“
Frau Rielke hielt ihm eine übervolle stinkende Mülltüte unter die Nase.
„Eigentlich wollte ich gar nicht ganz hinunter, nur bis zu meiner Wohnung“, sagte Herr Fridolin entschuldigend.
„Ach, nun seien Sie doch nicht so. Die zwei Etagen können Sie doch mir zuliebe eben noch laufen“, bat Frau Rielke.
Der Wicht zerrte an seinem Bein.
„ICH WILL ENDLICH WAS ZU ESSEN! ICH BIN MÜDE! ICH WILL NACH HAUSE!“, zeterte er.
Frau Rielke stand immer noch vor ihm. Das untere Ende der Mülltüte riss ein Stück weit auf und widerliche braune Müllbrühe tropfte auf Herrn Fridolins Schuhe. Der Wicht jaulte.
„IIIIIIIIHHHHHHH! IST DAS EKLIG!“
„Herr Fridolin! Jetzt nehmen Sie doch endlich den Müll“, drängte Frau Rielke.
„Es reicht!“, sagte Herr Fridolin, erst noch ganz ruhig. Dann brach es aus ihm hervor und seine Stimme wurde immer lauter. „BRINGEN SIE IHREN BLÖDEN MÜLL GEFÄLLIGST SELBST RUNTER!!!“
Der Wicht ließ sein Bein los und schaute ihn bewundernd an.
„Hey! Das war gut!“, sagte er, und seine Stimme klang ganz normal und freundlich und überhaupt nicht wütend. „Dann kann ich ja jetzt endlich Feierabend machen. Mach’s gut!“
Er drehte sich um und hüpfte fröhlich die Treppe hinunter. Perplex schaute Herr Fridolin ihm nach.
„Auf Wiedersehen!“, rief er, als der Wicht schon im Erdgeschoss und fast an der Haustür war.
„Hoffentlich nicht!“, schallte es von unten zurück. Dann fiel die Tür hinter ihm zu und es war stil im Treppenhaus.
„Machen Sie den Mund zu!“, riet Herr Fridolin seiner Nachbarin, wischte seinen schmutzigen Schuh an ihrem Hosenbein ab und ging in seine Wohnung.
(Jutta Jordans, September 2005)
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